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Ein Stück Freiheit

Peter Wurzer I

Frühjahr 1972. Dänemark, Irland, Norwegen und das Vereinigte Königreich haben Verträge über den Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften unterzeichnet, in Norwegen scheitert dann aber der Beitritt an einer Volksabstimmung.

Der zweite Beitrittsversuch Norwegens in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, den ich hautnah miterlebte, da ich damals in Oslo wohnte, scheiterte ebenfalls an einer Volksabstimmung. Die Pro-Europäer waren entsetzt, hielten die Abstimmungsniederlage, auch wenn sie sehr knapp war, nicht für möglich. Wie konnte das geschehen?

Für mich als quasi Außenstehenden kam das nicht völlig überraschend. Viele Norweger litten damals immer noch unter dem Trauma der deutschen Besatzung im 2. Weltkrieg, der die kurze Unabhängigkeit von fremden Mächten, die erst seit 1905 bestanden hatte, wieder zunichte machte. Viele meinten, das kleine Norwegen mit seinen knapp 5 Millionen Einwohnern hätte in der EU nichts zu melden und Europa bräuchte nur einen Netto-Beitragszahler mehr. Und das wäre Norwegen auf Grund seiner Ölvorkommen („die Scheichs des Nordens“) sicher geworden. Darüber hinaus fürchteten viele hochsubventionierte Bereiche der norwegischen Volkswirtschaft, v.a. die Landwirtschaft und der Fischfang, Verluste bei einem eventuellen Beitritt.

Ein weiterer Grund, warum auch das zweite Beitrittsreferendum scheiterte, wurde nicht öffentlich diskutiert, spielte aber unterschwellig eine Rolle, nämlich eine antideutsche Stimmung oder Grundhaltung, vor allem in der veröffentlichten Meinung und bei den jüngeren und im Erwerbsleben stehenden Norwegern, denen in der Schule kein positives Deutschlandbild vermittelt wurde. Man sah, dass Deutschland innerhalb der EU eine führende Rolle spielte und da wurden Ängste geweckt, die aber nicht offen ausgesprochen wurden.

Erstaunlich für mich war, dass die ältere Generation der Norweger, die den Krieg miterlebt und auch darunter gelitten hatte, mir wesentlich deutschfreundlicher vorkam als die jüngeren Generationen. Meine Söhne gingen auf die kleine Deutsche Schule Oslo, die damals an der Majorstua Skole, einer norwegischen Gesamtschule, untergebracht war. Nicht selten gab es Streitereien auf dem Schulhof und die deutschen Schüler und Schülerinnen mussten sich oft als Nazis beschimpfen lassen.

Eine kleine Anekdote unterstreicht vielleicht das, was ich andeuten will. Oft brachte ich meine Söhne, vier und sechs Jahre alt, zur Schule bzw. Kindergarten im Zentrum Oslos, wir fuhren mit der „Trikk“, der U- bzw. S-Bahn, und während der ca. 25minütigen Fahrt las ich ihnen aus deutschen Kinderbüchern vor. Niemals sind wir deswegen schief angeschaut oder gar belästigt worden, im Gegenteil, ältere Norweger sprachen uns freundlich auf Deutsch an, sie wollten stolz zeigen, dass sie in der Schule Deutsch gelernt hatten. Daher war ich umso erstaunter, als mich eines Tages ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft ansprach und meinte, „Sie haben Mut, in der Bahn Bücher auf Deutsch laut vorzulesen!“

Das war rund zwanzig Jahre nach dem ersten gescheiterten Beitrittsversuch im Jahr 1972.

Im Frühjahr 1972 – hier komme ich auf den Ausgangspunkt zurück – hatte ich persönlich mein erstes europäisches Erlebnis.

Ich studierte an der Uni in Regensburg Englisch und Sozialkunde und hatte zusammen mit einem Studienfreund einen Sprachkurs für Studenten in Broadstairs im Südosten von England gebucht. Wir fuhren mit dem Zug nach Ostende, von da mit der Fähre nach Dover, von Dover mit dem Zug nach Ramsgate und von Ramsgate mit dem Bus nach Broadstairs zu unseren Familienunterkünften. Diese Art des Aufenthalts hatten wir bewusst gewählt, denn wir wollten Englisch mit Engländern in England sprechen.

Für mich war meine Gastfamilie ein Glücksfall. Ich wurde von der Familie ganz herzlich aufgenommen, allen voran von der „Landlady“ (Frau des Hauses) Ann, aber auch von ihrem Mann Tony, dem „Landlord“, und den 3 P’s, den Kindern Penny, Patrick und Philip.

Ann brachte mir jeden Morgen eine „early morning cup of tea“ ans Bett, Tony bot mir sein selbst gebrautes Bier und seinen selbst gemachten Wein an und wir alle spielten Scrabble und Tischtennis.

Den Tee schmecke ich noch heute auf Zunge und Gaumen, während die selbst fabrizierten Alkoholika mir eher Kopfweh bereiteten. Wir redeten viel miteinander, zu Tisch, beim Spiel und auch vor dem Fernseher, der praktisch pausenlos an war. Manchmal wurde es mir zu viel und ich sagte einmal: „Sorry, I’ve run out of my English …“. Diese Neuschöpfung eines Ausdrucks hatte meinen Landlord köstlich amüsiert und er hat das bei späteren Besuchen in den Jahren danach immer wieder zitiert.

Mein Studienfreund hatte nicht so viel Glück mit seiner Gastfamilie, die aus einer alleinstehenden, arbeitstätigen Frau mit einer fast erwachsenen Tochter bestand. Die Frau hatte fast nie Zeit für ihn und die Tochter einen Freund und auch kein Interesse, sich mit dem fremden Studenten zu unterhalten. Wahrscheinlich waren sie nur auf das Geld für Unterbringung und Verpflegung scharf, mutmaßte Ann, meine Landlady.

Worüber wir damals sehr froh waren, war die Tatsache, dass ein Jahr zuvor, nämlich am 15. Februar 1971, der „Decimal Day“ war. An jenem Tage wurde die britische Währung reformiert. Nun bestand 1 Pfund Sterling aus 100 Newpence, das war für uns Kontinentale nachvollziehbar. Vorher bestand ein Pfund aus 20 Schillingen und ein Schilling wiederum aus 12 Pence – ein Horror, damit zu rechnen.

Der Schilling war passé – Gott sei Dank. Was aber noch einigermaßen funktionierte, war die britische Automobilindustrie. Die hatte auch den legendären Mini hervorgebracht, ein damals revolutionärer Kleinstwagen. Sehr gut erinnere ich mich daran, als mein Studienfreund und ich eines Morgens zur Sprachschule per Anhalter fuhren, als wir den Bus verpasst hatten. Ausgerechnet ein Mini-Fahrer hielt an und nahm uns mit. „She’s running smoothly this morning“, sagte er von seinem Wägelchen und wir lernten, dass Automobile im Englischen weiblich sind.

Mit meinen Gasteltern stand ich übrigens noch viele Jahre in Verbindung und sie besuchten uns auch mehrmals in Deutschland.

Dass nun Großbritannien, ich sage immer noch England, obwohl das politisch nicht korrekt ist, die Europäische Union verlässt, stimmt mich traurig. Die Brexit-Abstimmung hat mich an das Beitrittsreferendum 1994 in Norwegen erinnert. Die Europabefürworter waren sich jeweils ihrer Sache wohl zu sicher …

Fazit: Für Europa muss man kämpfen, wie auch für die Freiheit – Europa ist für mich auch ein Stück Freiheit. Leider bleibt nichts von sich aus bestehen und verfällt, wenn man sich nicht dafür einsetzt.

(c) Peter Wurzer

Ein Gedanke zu „Ein Stück Freiheit“

  1. Ein ermutigender Beitrag zu Europa. Für mich begann Europa mit dem Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag. Ja, die Freiheit muss immer wieder erkämpft und verteidigt werden. Wie schnell sie uns genommen werden kann, sieht man in dieser C-19-Zeit. Norwegen geht einen besonderen Weg, der mich erschreckt und den es sich nur mit dem Ölmilliarden leisten kann.

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